Pacta sunt servanda um jeden Preis? Vertragsanpassung bei Kostensteigerung im Einklang mit Vergaberecht. Das dringend notwendige Revival der clausula rebus sic stantibus

Titeldaten
  • Csaki, Alexander; Sieber, Ferdinand
  • ZfBR - Zeitschrift für deutsches und internationales Bau- und Vergaberecht
  • Heft 4/2023
    S.329-338
Zusätzliche Informationen:
Aufsatz

Abstract
Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Umgang defizitärer Verträge im Vergaberecht infolge anhaltender globaler Krisen und zeigt hierzu Lösungswege auf. Dabei werden verschiedene Möglichkeiten der Vertragsanpassung von öffentlichen Aufträgen mitsamt ihren vergaberechtlichen, zivilrechtlichen, haushaltsrechtlichen, preisrechtlichen und beihilferechtlichen Implikationen in den Blick genommen. Den Ausgangspunkt bildet der Grundsatz der Vertragstreue „pacta sunt servanda“, der jedoch seine Grenzen in der „clausula rebus sic stantibus“ findet. Die gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen von der Neuausschreibungspflicht gemäß § 132 GWB seien bei Kostensteigerungen in der Regel nicht einschlägig. Auch könnten vertragliche Wertsicherungsklauseln die Intensität der Preissteigerungen nicht adäquat abfedern (dysfunktionale Wertsicherungsklauseln). Als Ausweg werden die verschiedenen Anspruchsgrundlagen, die auf eine Vertragsanpassung abzielen, aufgezeigt. Vertragliche Anpassungsklauseln seien wegen ihres großen Auslegungs- und Streitpotentials bei extremen Kostenänderungen regelmäßig nicht zielführend. Im Zuge einer ergänzenden Vertragsauslegung nach §§ 133, 157 BGB könne die Abrechnung auf Grundlage der tatsächlich gezahlten Preise ermöglicht werden. Darüber hinaus könne sich ein gesetzlicher Anspruch auf Vertragsanpassung aus § 313 BGB bzw. der gleichlaufenden Regelung in § 60 VwVfG ergeben. Ein haushaltsrechtlicher Anpassungsanspruch sei ferner aus § 56 BHO bzw. entsprechenden landesrechtlichen Vorschriften denkbar, der bereits unterhalb der Schwelle des § 313 BGB greifen könne. Für die Möglichkeit einer Vertragsanpassung sprechen außerdem Bestimmungen des Preisrechts, konkret die Regelung in § 1 Abs. 1 PreisV. Schließlich wenden sich die Autoren möglichen Restriktionen zu, die einer Vertragsanpassung im Vergaberecht entgegenstehen könnten. Nach der dort vertretenen Ansicht fällt der zuvor geschilderte Anspruch auf Vertragsanpassung bereits nicht in den Anwendungsbereich des § 132 GWB, denn die Anpassung eines defizitären Vertrages stelle keine Neuverhandlung dar. Im Übrigen läge auch keine Wesentlichkeit i.S.v. § 132 GWB vor, sodass jedenfalls keine vergaberechtlichen Bedenken bestünden. Ebenso wenig stelle die Zustimmung des öffentlichen Auftraggebers zur Vertragsanpassung eine notifizierungspflichtige Beihilfe i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV dar. Ohnehin gehe damit keine Wettbewerbsverzerrung einher. Da im Zuge einer Vertragsanpassung an die aktuellen Marktpreise der Auftragnehmer nicht um das gesamte Beschaffungsrisiko erleichtert werde, sei dieses Vorgehen auch nicht preisrechtlich unzulässig. Zum Schluss plädieren die Autoren für eine Stärkung des Rechts auf Vertragsanpassung der Auftragnehmer, das sich insbesondere aus § 313 BGB ergeben könne. Zudem wird Auftragnehmern geraten bereits bei der Gestaltung von langlaufenden Verträgen die Frage der Möglichkeit von Vertragsänderungen Beachtung zu schenken. Zugleich wird vor einer ausufernden Anwendung der clausula rebus sic stantibus Grundsätze im Hinblick auf die Verlässlichkeit und Sicherheit im Rechtsverkehr gewarnt.
Linda Siegert, ESCHE SCHÜMANN COMMICHAU Rechtsanwälte Wirtschaftsprüfer Steuerberater Partnerschaftsgesellschaft mbB, Hamburg