Vergaberechtlicher Rechtsschutz künftig nur vor Vergabekammern?

Titeldaten
  • Tresselt, Wiland ; Rosenberger, Isabelle
  • NZBau - Neue Zeitschrift für Bau- und Vergaberecht
  • Heft 1/2025
    S.9-12
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Aufsatz

Abstract
Der Aufsatz befasst sich mit einem Urteil des EuGH, das sich mit der Möglichkeit, die vergaberechtliche Kontrolle auf eine nicht gerichtliche Nachprüfungsstelle erster Instanz zu beschränken, auseinandersetzt (EuGH, Urt. V. 18.01.2024 - C-303/22). Zudem wird besprochen, ob das Zuschlagsverbot nur bis zur Entscheidung einer solchen Stelle begrenzt werden kann. Dem Urteil liegt ein Sachverhalt zugrunde, in dem die Antragstellerin nach erfolgloser Rüge einen Nachprüfungsantrag bei der nach dem Landesrecht zuständigen Wettbewerbsbehörde ÚOHS stellte. Bei dieser Behörde handle es sich um eine vom Auftraggeber unabhängige Institution, aber nicht um ein Gericht. Bis zum Abschluss des Verfahrens vor der Wettbewerbsbehörde wurde zudem die Zuschlagserteilung vorläufig untersagt. Die ÚOHS wies den Nachprüfungsantrag im Folgenden allerdings zurück. Dagegen legte die Antragstellerin in zweiter Instanz beim Vorsitzenden der ÚOHS Widerspruch ein, der ebenfalls zurückgewiesen wurde. Daraufhin wurde der Zuschlag erteilt. Die Antragstellerin erhob daraufhin Klage gegen die Zurückweisung des Widerspruchs vor dem Regionalgericht. Zudem beantragte sie die Aussetzung des bereits geschlossenen Vertrages. Der bereits geschlossene Vertrag kann nach tschechischem Recht allerdings nicht rückgängig gemacht werden. Das Gericht äußerte diesbezüglich Zweifel, ob diese Vorschrift mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 47 GRCh und der Rechtsmittelrichtlinie vereinbar ist, und legte die Frage dem EuGH vor. Der EuGH gelangt unter Verweis auf die Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG zum Ergebnis, dass es für den Suspensiveffekt gerade nicht darauf ankommt, ob der Mitgliedstaat die Nachprüfung erstinstanzlich einer gerichtlichen oder nicht-gerichtlichen Nachprüfungsstelle zuordnet. Zeitlich erstrecke sich der Suspensiveffekt nur auf den Zeitraum bis zur Entscheidung dieser Nachprüfungsstelle. Die Autoren kritisieren, dass der EuGH in dem Entscheidungstenor nicht berücksichtigt hat, dass ein effektiver Rechtsschutz aber nur dann gewährleistet werden kann, wenn das Zuschlagsverbot mindestens bis zur Möglichkeit des Gerichts (in zweiter Instanz), das Zuschlagsverbot auf Antrag des Bieters bis zur Hauptsacheentscheidung zu verlängern, andauert. Zum Schutz des effektiven Rechtsschutzes hätte im Ergebnis der Zuschlag vor Ablauf der Klagefrist nicht erteilt werden dürfen. Nach §§ 155 ff. GWB und in Abgrenzung zu der Entscheidung des EuGH kommen die Autoren zu dem Schluss, der deutsche Gesetzgeber dürfe den Suspensiveffekt des Nachprüfungsantrags nicht auf die Entscheidung der Vergabekammer begrenzen. Im Gegensatz zum EuGH sei der nationale Gesetzgeber davon ausgegangen, dass die Vergabekammern keine Gerichte sind. Der nationale Gesetzgeber würde das Vertrauen in den Bestand abgeschlossener Verträge höher bewerten als das Interesse unterlegener Bieter an der Rückabwicklung oder Beendigung eines unter Verstoß gegen Vergaberecht geschlossenen Vertrags. Ein effektiver Rechtsschutz sei für die Bieter aber jedenfalls gewährleistet – unabhängig davon, ob die Vergabekammern unionsrechtlich als gerichtliche oder nicht gerichtliche Nachprüfungsstellen anzusehen sind.
Linda Siegert, ESCHE SCHÜMANN COMMICHAU Rechtsanwälte Wirtschaftsprüfer Steuerberater Partnerschaftsgesellschaft mbB, Hamburg